Neubeginn in London (P.2)

Birgit Erath

Birgit verbrachte die gesamten Sommerferien 1982 in Deutschland. In dieser Zeit fielen ihr die Unterschiede besonders stark auf – zwischen dem offenen, freien Leben in London und dem vertrauten, aber engen Denken in Waldmössingen. In London konnte man sein, wer man wollte, inmitten einer Stadt, die sich ständig veränderte und in der so viel los war. In Deutschland dagegen wurde schnell geredet, wenn jemand ein wenig anders war – und egal, wie lange man weg war, jedes Mal bei der Rückkehr hatte sich im Dorf nichts verändert.

Während dieser Sommerferien entschied sich Birgit eines Morgens, gegen fünf Uhr, gemeinsam mit Freunden nackt in einen Teich zu springen – ein spontaner Moment jugendlicher Freiheit. Was sie dabei nicht bedachte: Um diese Zeit begannen bereits die ersten Jogger ihre Runden. Kaum waren sie im Wasser, wurden sie entdeckt, herausgejagt – und Birgit war für den Rest des Sommers das Gesprächsthema Nummer eins im Dorf.

Der Sommer reichte, um zu merken, dass sie sich in England wohler fühlte. London hatte sie verändert. Sie vermisste das geschäftige Treiben, die Energie, das Abenteuer – all das, was ihr zum ersten Mal das Gefühl gegeben hatte, frei zu sein, auch wenn Familie und Freunde hinter ihr standen, sie unterstützten, sich mit ihr über alles freuten, was sie erlebt hatte, und sie sogar besuchten.

Als sie zurückkehrte, kam sie zunächst wieder als Au-pair nach London. Doch diesmal war es nicht mehr nur ein Abenteuer, sondern ein Plan. Auf ihrem täglichen Weg fiel ihr immer wieder ein Aushang auf – eine Stellenausschreibung am schwarzen Brett des Ashburn Hotel 111. Das elegante Gebäude lag an der Hauptstraße, nicht weit von ihrer Arbeit. Jedes Mal, wenn sie vorbeikam, blieb sie kurz stehen, las die Anzeige und stellte sich vor, eines Tages dort zu arbeiten.

Während ihrer Zeit als Au-pair besuchte sie abends Kurse für angehende Sekretariatsangestellte – nicht weit von ihrer Arbeitsstelle. Dort lernte sie Schreibtechnik, Büroorganisation, Verwaltung und den Umgang mit dem Switchboard. Nach Abschluss des Seminars fühlte sie sich bereit, bewarb sich beim Ashburn Hotel 111 – und erhielt die Zusage.

Bevor sie anfing, sprach sie mit ihrer Gastfamilie, die schweren Herzens einverstanden war – unter der Bedingung, dass Birgit zwei Wochen lang das neue Au-pair einarbeitete. Danach packte sie ihre Koffer, zog in das Ashburn Hotel 111 und bezog dort ihr eigenes kleines Apartment, das zu ihrer neuen Stelle gehörte.

Ihr Chef war ein Mann mit Einfluss, aber wenig Charakter – berechnend, aufdringlich, streng, ein echtes Schlitzohr. Birgit blieb professionell, wich ihm an schlechten Tagen aus und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Er brachte ihr dennoch einiges bei – Buchhaltung, Personalplanung, Gästebetreuung – doch das Klima blieb angespannt.

Während dieser Zeit lernte sie den Vater ihres ersten Sohnes Philip kennen. Er war ein Dauergast im Haus, wie viele andere, die für Geschäftsevents wochen- oder monatelang blieben. Meist saß er abends allein an der Bar – leise, höflich, zurückhaltend. Dort begannen ihre Gespräche, erst beiläufig, dann vertrauter. Zwischen den beiden entstand eine ruhige, tiefe Verbindung – fern vom Trubel des Hotels. Es war eine Beziehung, die lange nachwirkte.

Sie arbeitete dort über zwei Jahre. Die Arbeit war fordernd, aber sie lernte viel. Doch dann kam der Vorfall, der alles veränderte. Der Chef geriet in einen Streit mit dem Freund einer Mitarbeiterin. Worte wurden laut, die Situation eskalierte - es wurde handgreiflich und endete vor Gericht.

Birgit wurde als Zeugin geladen – von beiden Seiten. Sowohl der Chef als auch die Kollegin wollten sie auf ihre Seite ziehen. Sie wollte eigentlich für ihre Kollegin sprechen, mit der sie sich nicht immer gut verstanden hatte, doch die Angst, ihren Job zu verlieren, war größer. Der Druck von beiden Seiten wurde unerträglich. Schließlich entschied sie sich, gar keine Stellung zu nehmen.

Diese Entscheidung brachte ihr keine Freunde. Das Vertrauen im Haus war zerstört. Kurz darauf machte der Chef ihr klar, dass sie „nicht länger tragbar“ sei – und entließ sie. Damit verlor sie nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihr kleines Apartment, das zum Hotel gehörte.

Durch ihre Friseurin fand sie schnell eine neue Wohnung in Ealing Broadway 5, über einem kleinen Friseursalon – eng, kaputt, heruntergekommen, aber bezahlbar, die sie sich mit einer anderen Frau teilte.

(Ealing Broadway 5, heute)

Einige Tage danach entdeckte sie im Evening Standard Zeitung eine Anzeige: Das Alexander Hotel Number Sixteen, Sumner Place, ein luxuriöses Haus der Alexander Hotel Group, suchte Personal für den Rezeptionsbereich. Sie bewarb sich mit all ihren erlernten Fähigkeiten, beschönigte nichts und wurde eingestellt. Zwei Monate später wurde sie sogar zur Assistant Managerin befördert.

Das Hotel befand sich in einem viktorianischen Stadthaus im Herzen von South Kensington – elegant, ruhig, mit jener klassischen britischen Atmosphäre, wie man sie aus alten Filmen kennt.

Eines Abends saß Birgit in der Lounge, als dort im Fernsehen Wimbledon übertragen wurde. Auf dem Bildschirm spielte Boris Becker – jung, schmal, fast bubenhaft. Sie hatte nie zuvor so etwas gesehen: wie dieser Junge die Bälle mit solcher Kraft über das Netz schlug, voller Energie und Zielstrebigkeit. Sie wusste nichts über Tennis, hatte ihn nie zuvor gesehen, doch etwas an seiner Entschlossenheit faszinierte sie.

Am nächsten Morgen, als sie an der Rezeption arbeitete, erschien derselbe Junge im Hotel. Die Gäste flüsterten: „That’s him – the boy from TV.“ Birgit erkannte ihn sofort. Er wirkte höflich, ein wenig verloren in der großen Stadt. Sie sah etwas von sich selbst in ihm – dieses Gefühl, neu zu sein in einer fremden Welt, in der alles gleichzeitig aufregend und einschüchternd ist.

Es war ein sehr junger Boris Becker. Sie ging zu ihm, brachte ihm das Frühstück und sagte auf Deutsch, dass sie es wirklich stark fand, wie er am Vortag gespielt hatte. Sie begann, mit ihm zu plaudern, stellte Fragen – neugierig, offen, beinahe wie ein Fan. Schließlich fügte sie mit einem Lächeln hinzu:

„Wenn ich nerve, sag einfach fuck off.“

Der junge Boris lachte, bedankte sich, und sie unterhielten sich noch eine kurze Weile. Dieser Moment blieb Birgit im Gedächtnis. Danach interessierte sie sich lange für Tennis, verfolgte Spiele und erinnerte sich oft an dieses Gespräch.

Birgit wusste, ihre Reise war noch nicht zu Ende. Sie hatte sich inzwischen gut eingelebt, viele Freunde gefunden, war oft in Pubs und auf Partys unterwegs und genoss das Leben trotz der vielen Arbeit in vollen Zügen. Sie ließ sich von der großen Stadt nicht einschüchtern – ganz im Gegenteil. Finanziell kam sie zurecht. Sie lebte zwischen der Welt des Luxus, in der sie arbeitete, und der heruntergekommenen Realität ihrer kleinen WG. Birgit wollte mehr – etwas Neues lernen, sich weiterentwickeln, ein besseres Leben aufbauen. Durch ihre Arbeit im Hotel und durch den Mann, den sie zu dieser Zeit sah, erhielt sie viele Einblicke in die Geschäftswelt.

Ihr alter Traum vom Modedesign verblasste immer mehr. Er rückte in den Hintergrund, während die Hotellerie zu ihrem Weg wurde. Sie dachte, vielleicht würde sie sich vollständig ausbilden, auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten oder eines Tages doch nach Amerika gehen. Sie arbeitete zwei Jahre im Alexander Hotel, und Philip, der zurückhaltende Geschäftsmann aus der Hotellounge, wurde ihr Partner. Durch Kontakte erhielt sie Einladungen zu kleinen Modeausstellungen und Angeboten, Entwürfe zu präsentieren – sogar eine mögliche Versetzung nach Monte Carlo. Doch sie lehnte ab, um in London zu bleiben und mit ihrem Partner zusammen zu sein.

Trotz Beförderung fühlte sie sich gefangen – im Job, in der Beziehung, in einem Leben, das sie nicht mehr so frei fühlen ließ wie am Anfang.

Eines Abends fiel ihr im Evening Standard eine Anzeige ins Auge – das Forum Hotel suchte Führungspersonal. Ein modernes Hochhaus, 1971 erbaut, heute als Holiday Inn Kensington bekannt. Das Gehalt war besser, doch der Druck enorm. Sie musste klare Entscheidungen treffen, Abläufe kontrollieren, Verantwortung übernehmen. Sie musste den deutschen Führungsstil raushängen lassen – knallhart, wie es von ihr verlangt wurde. Sie bewarb sich für die Stelle im Hochhaus Forum Hotel, bekam eine Zusage und verließ ihren stabilen Job im Alexander Hotel in der Hoffnung, diese Führungsposition würde ihr helfen, ihren Weg zu finden und sich wieder besser zu fühlen – doch es erwies sich bald als Fehler.

Der Druck, die Kontrolle, die langen Tage – all das wurde zu viel. Es war einfach nicht das Richtige. Sie wusste, dass dies nicht das Leben war, das sie wollte – im Gegenteil, es machte alles nur schlimmer. Nach sechs Wochen war sie erschöpft, unruhig, voller Zweifel. An einem dieser Abende, müde und leer, überflog sie wieder den Evening Standard – diesmal blieb ihr Blick an einer kleinen Anzeige hängen: Tony Roma’s. Kein Hotel, kein Hochhaus, kein Machtspiel – einfach ein Restaurant. Sie hatte noch nie ausschließlich in einem Restaurant gearbeitet, aber durch die Hotelbranche genügend Erfahrung gesammelt. Zum ersten Mal seit Langem spürte sie Neugier statt Angst.

Sie bewarb sich spontan – ohne zu wissen, dass damit das nächste Kapitel ihres Lebens begann. Dort, bei Tony Roma’s, sollte sich ihr Weg endlich zu formen beginnen.

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