Birgit Erath – London Calling (P.1)
Jake ErathIm Jahr 1979 war Birgit Erath 18 Jahre alt und lebte mit ihrer Familie im elterlichen Haus in Waldmössingen, einem kleinen, ruhigen Ort im Schwarzwald. Sie hatte gerade ihre Ausbildung als Textilverkäuferin bei Boutique Clair in Schramberg abgeschlossen und anschließend bei Hofmeyer in Oberndorf gearbeitet. Doch obwohl sie ihren Beruf mochte, spürte sie: Das kann noch nicht alles gewesen sein. Sie träumte von einer Zukunft in der Modewelt – vielleicht sogar in einer größeren Stadt, wo Trends geboren wurden. Doch eines war klar: Ohne Englisch ging kaum etwas.


Damals, Ende der 70er, hatte sie grundsätzlich zwei Möglichkeiten, um die Sprache zu lernen: Entweder den klassischen Weg über eine Sprachschule – oder für ein Jahr ins Ausland gehen. Die Sprachschule in der Nähe erschien ihr langweilig, zu eintönig. Sie hatte das Bedürfnis, rauszukommen – aus dem Dorf, aus der gewohnten Umgebung. Sie wollte erleben, wie das Leben in einer Großstadt wirklich war. Und so reifte in ihr der Entschluss: Sie würde ins Ausland gehen.
Amerika war ebenfalls im Gespräch – viele junge Menschen zog es damals dorthin. Doch ihr Vater war entschieden dagegen. Er hatte als U-Boot-Mitarbeiter im Krieg gedient und war später in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Seine Erinnerungen an diese Zeit waren von Bitterkeit geprägt. In vielen Gesprächen legte er Birgit eindringlich nahe, nicht in die USA zu gehen. Er hatte kein gutes Bild von den Amerikanern – zu streng, zu kalt, zu fremd. Birgit respektierte seine Gefühle – und verabschiedete sich von der Idee.
Stattdessen fiel ihre Wahl auf England – genauer gesagt: London. Natürlich spielten auch die Beatles eine Rolle. Wie so viele ihrer Generation war sie von deren Musik und dem Lebensgefühl, das sie verkörperten, begeistert. London war cool, kreativ, lebendig – und es war näher als New York.
Im Herbst 1979 kam Birgit mit dem Zug an der Victoria Station an. Der Lärm, die Menschenmassen, die schwarzen Taxis und roten Doppeldeckerbusse – all das überwältigte sie zunächst. Doch sie fühlte auch: Hier beginnt ein neues Kapitel.

Untergebracht war sie bei einer Arztfamilie auf der Edgware Road – als Au-pair. Ihre Hauptaufgaben bestanden darin, im Haushalt zu helfen und sich um den riesigen Bernhardiner der Familie zu kümmern. Anfangs verstand sie kaum ein Wort Englisch, doch mit der Zeit gewöhnte sie sich an die Sprache, an das Leben in einer fremden Familie und an den ganz eigenen Rhythmus Londons.
Sie lernte die Stadt lieben – ihre Ecken und Kanten, ihre Vielfalt, ihre Eigenheiten. Es war eine prägende Zeit in einer der schillerndsten Phasen der Stadtgeschichte: das London der späten 70er, zwischen Punk, Pop und Post-Hippie-Kultur.

Als sie ein Jahr später zurück nach Deutschland kam, war sie nicht mehr dieselbe. Selbstbewusster, weltoffener und mit dem Gefühl, wirklich etwas erlebt zu haben. Ihre Englischkenntnisse hatten sich deutlich verbessert – und auch wenn der große Job in der Modewelt nicht sofort auf sie wartete, hatte sie nun das wichtigste Rüstzeug: den Mut, neue Wege zu gehen.